Seneca

Seneca, Pergamon-Museum, Foto: H.J. Günther 2008


Seneca

Reisen als Flucht

(Epistula XXVIII:, 1-5)

Seneca Lucilio suo salutem

(1) Glaubst Du, es sei nur Dir geschehen oder betrachtest Du es als etwas völlig Neues, dass Du durch eine solch lange Reise und so viele Ortswechsel die Trauer und die Niedergeschlagenheit nicht vertrieben hast? Du musst deine Einstellung ändern, nicht das Klima. Wenn du auch das weite Meer überquert hast und wie unser Vergil es sagt, 'Länder und Städte schwinden', werden Deine Fehler Dich verfolgen, wohin Du auch gehen magst.

(2) Zu einem, der eben dieses beklagete, sagte Sokrates, "Warum wunderst Du dich, dass Dir die Reise nichts bringt, wenn Du Dich doch selber mitschleppst? Derselbe Grund, der Dich hinaustreibt, bedrückt Dich." Welche neuen Attraktionen der Länder können Dich erfreuen? Welche Bekanntschaft von Städten oder Plätzen? Diese Ortswechsel sind vergeblich. Warum findest Du auf Deiner Flucht nicht das, was Dich erfreut? Du flüchtest mit Dir. Du musst die Last der Seele ablegen: Vorher wird Dir kein einziger Ort gefallen.

(3) Bedenke, dass Dein Zustand nun so ist, wie bei der Seherin (Sibylle) - den schon unser Vergil vorführt - die erregt und getrieben war von einem in ihr steckenden Geist, der nicht ihr eigener war.
'Es rast die Seherin und versucht, ob sie den großen Gott aus ihrer Brust verbannen kann.'
Du reist hier und dort hin, um das belastende Gewicht abzuschütteln, das eben durch dieses Getriebensein immer beschwerlicher wird, gleichwie auf Schiffen eine fest verstaute Last weniger Druck erzeugt, hingegen die umherrollende Last die Schiffsseite, an der sie sich befindet, schneller zum Sinken bringt. Was Du auch tust, Du machst es gegen Dich und durch diese Unrast selbst schadest Du Dir: Du rüttelst nämlich einen Kranken.

(4) Wenn Du aber Dein Übel beseitigt hast, wird Dich jeder Ortswechsel erfreuen. Magst Du auch in die fernsten Länder vertrieben werden, magst Du Dich auch im letzten Winkel eines unzivilisierten Landes einquartieren, wird Dir die Stätte gastlich sein, wo auch immer sie liegt. Es ist von größerer Bedeutung, als welcher Du angekommen bist, denn als wohin; daher dürfen wir unser Herz an keinen Ort hängen! Mit diesem Glauben sollst Du leben: "Ich bin nicht für einen Winkel geboren, meine Heimat ist die ganze Welt."

(5) Wenn Dir das klar wäre, würde es Dich nicht wundern, dass Dir durch keinen Austausch der Regionen geholfen wird, in die Du nacheinander reist, weil Du der vorherigen überdrüssig bist; jede erste hätte Dir nämlich gefallen, wenn Du eine jede für Deine Heimat hieltest. Nun reist Du nicht, sondern irrst umher und hetzt von Ort zu Ort, obwohl das, was Du suchst - nämlich glücklich zu leben - an jedem Ort zu finden ist.

Übersetzung: Hans-Jürgen Günther



Seneca (latein)


Seneca

zurück zu Klassenarbeiten


Hans-Jürgen Günther

Zurück zur Hauptseite